Die Zukunft des Wohnens

von Hans E. Widmer

«Nie wieder wohnen!» Fast hätte ich meinen In-Put mit diesem Slogan begonnen.

Doch, es ist klar: wir brauchen auch in Zukunft ein Dach über dem Kopf. Was ich hier unterstreichen möchte, ist jedoch, dass nicht mehr das Wohnen, oder gar Wohnformen – jeder soll wohnen, wie er will, sofern er nicht mehr als 35qm beansprucht – die Herausforderung der Zukunft sind, sondern das Haushalten. Wenn wir die ökologischen Rahmenbedingungen ernst nehmen, dann brauchen wir eine andere Lebensweise, andere Reproduktionsformen, die mit den bisherigen Einzelhaushalten nicht mehr zu schaffen sind. In ihrem neusten Buch sagt Naomi Klein sogar, dass wir den Kapitalismus von innen heraus überwinden sollten, wenn wir die Biosphäre noch retten wollen. Und wenn Naomi Klein das sagt, dann machen wir das auch. Das Fenster für eine rein technische Bewältigung der Umweltprobleme hat sich für sie schon geschlossen. Wir sind eingeladen nicht einfach weniger zu brauchen, sondern so genussvoll und machtvoll zu leben, dass weniger Stoffdurchstoss nur eine nette Nebenwirkung ist. Ökologie an sich hat ja keinen Sinn. Es geht um Lebensfreude. Um happy neighborhoods.

Das erste Soziotop für eine solche Lebensweise ist logischerweise das erweiterte Wohnumfeld, die Nachbarschaft. Es ist wichtig, dass wir dieses Modul so genau wie möglich definieren, nicht unbedingt um damit den Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun haben, sondern um uns darüber bewusst zu werden, was wir tun, und was wir nicht tun. Ein Experiment ohne klare Versuchsanordnung erbringt keine Resultate. Die Versuchsanordnung, die Neustart Schweiz schon lange vorschlägt, heisst: 500 Personen, demographisch gemischt, an einem dichten, kompakten Ort, am besten Blockrand, urban, mit einem Landteil von 80ha in maximal 50km Distanz, jede Nachbarschaft hat ein Mikrozentrum von ca. 1000qm Fläche, also eine kollektive Infrastruktur. (Hinweis auf Broschüre: Nachbarschaften entwickeln!) Damit ist noch nicht viel gesagt, aber doch einiges. Vor lauter Wohnen dürfen wir nicht vergessen, dass das Essen noch überlebenswichtiger ist. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Landwirtschaft global und in der Schweiz, so wie sie heute ist, eine grosse Umweltbelastung darstellt, und dass die Produktionsbedingungen schon lange nicht mehr stimmen. Genau so wie wir früher den Wohnungsbau nicht den Immobilienkonzernen überlassen wollten, dürfen wir heute nicht die Lebensmittelproduktion den Bauern, Agromultis und Grossverteilern überlassen.

Dieser Link zum Land, zur Landwirtschaft, eventuell sogar zur Landarbeit, wird in den meisten Wohngenossenschaften, die ich kenne, höchstens mit einem verständnislosen Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Wie kommt er darauf? Es geht doch um Wo-Wo-Wonige! Nein, darum geht es schon lange nicht mehr. Wir haben keine Wohnflächennot. Heute ist der Prokopfkonsum bei 50 qm, noch in den 80-er Jahren war er bei 30qm. Bei diesem Verbrauch könnten wir heute 14 Millionen Menschen in der Schweiz unterbringen ohne eine einzige Wohnung zu bauen. (Harry Gugger hat dafür ein Konzept entwickelt. Ich würde sogar behaupten, wir würden den Zuwachs nicht einmal bemerken. Nicht dass das ein Ziel sein müsste. Es gibt noch genug Platz anderswo, z.B. in Mecklenburg-Vorpommern.) Lebten wir schlecht in den 80er Jahren? Keineswegs, wir haben nur das Konsumverhalten geändert oder es uns ändern lassen. Schöner Wohnen ist ein Teil des allgemeinen Konsumismus.

Die Beteiligung an der Nahrungsmittelversorgung ist noch aus einem andern Grund wichtig: wenn wir Nachbarschaften als erweiterte Haushalte definieren, dann müssen wir auch gemeinsam etwas zu tun haben. Nur in Gemeinschaftsräumen sitzen und Filme schauen, bringt’s ja nicht. Nahrungsmitttelproduktion und -verarbeitung, kombiniert mit Kochen, Essen und Trinken gibt viel zu tun, schafft echte Gemeinschaft und macht meistens auch Spass.

Darüber hinaus können wir in Nachbarschaften bei vielen andern Sachen kooperieren. Besonders wichtig wird die gegenseitige Hilfe bei der Erziehung, beim Pflegen, Aushelfen im Einzelhaushalt, werden. 50 Prozent der Bevölkerung haben ein «Problem» und brauchen daher Hilfe, Unterstützung oder sogar Pflege: die Jungen, die Alten (sind schon einmal ein Drittel), die Kranken, die Menschen mit Behinderungen, die schlecht Ausgebildeten, die psychisch Gestrandeten, Menschen aus andern Kulturen. Diese Probleme können nicht einfach mit mehr Geld und Institutionen gelöst werden. Einiges davon kann aber in Nachbarschaften geleistet werden, wenn auch nicht alles.

Diese Nachbarschaften sind ein Teil einer Subsistenz-, Commons- und Suffizienz-Strategie, Basiscamps des globalen urbanen Aufstands. Darunter machen wir es nicht.

In einem grösseren Zusammenhang, und in einem nächsten Schritt, nämlich kombiniert zu fussläufigen Quartieren mit eigenen Zentren, sind Nachbarschaften der Anfang einer allgemeinen Relokalisation von innen heraus. Wenn wir Funktionen zusammenlegen, dann gibt es weniger Zwangsmobilität, dann werden Synergien möglich, dann verbrauchen wir weniger Ressourcen. Durch diese Zusammenarbeit entsteht aber auch Power, im eigentlichen politischen Sinn. Nachbarschaften sind auch Zusammenrottungen von widerspenstigen Bürgern. Power brauchen wir noch mehr als Wohnungen. Aber sie muss von irgendwoher kommen, und das sind nicht nur Wahlen und Abstimmungen.

Diese Nachbarschaften, Quartiere (20, 30, 100 Nachbarschaften) und Städte sind ein Rezept für die Verdichtung von innen heraus. Doch wir können Verdichtung und Zersiedlungsstopp nicht einfach als Regulierungen von oben installieren, denn es geht letztlich um die soziale Essenz. Wenn wir nur Dichte fordern, erhöhen wir den Wert der Grundstücke, und ganz andere Leute als wir lachen sich ins Fäustchen. Dichte wird zum Bumerang. Unsere Dichte ist nicht ihre Dichte. Wir brauchen Dichte, weil wir mehr Macht über unseren Alltag wollen. Wir rücken zusammen, weil wir zusammen etwas unternehmen wollen, und zwar in einem globalen Rahmen. Das ergibt dann auch aufgeräumte, enthüselte Landschaften.

Doch wie sind Nachbarschaften zu schaffen? Es gibt jetzt natürlich einige Genossenschaftsprojekte (aber vergessen wir auch private nicht, wie Ecofaubourg), wie die Giesserei hier oder die Kalkbreite, die mehr als Wohnen als Programm haben. Bei Neubauten ist es möglich, schon das Raumprogramm auf nachbarschaftliche Nutzungen abzustimmen und sich die BewohnerInnen zu suchen, die Interesse an solchen Strukturen haben. Aber landesweit gesehen sind solche Projekte nur ein Tropfen auf den heissen Stein, und es gibt kaum mehr passende Areale. In Zürich vielleicht noch ein Dutzend, und auch die werden momentan verspielt. Es ginge also darum ökologische Nachbarschaften aus dem Bestand heraus zu entwickeln. Der Zürcher Stadtrat hat dies teilweise begriffen, indem er neue dichte Nachbarschaften als Blockrandbebauungen fördern will.

Es geht aber nicht nur um äussere Bedingungen, sondern auch um das Innenleben. Wegen der heterogenen Besitzverhältnisse, eingespielten Gewohnheiten, und weil soziale Kompetenzen fehlen (sie fehlen auch bei uns – wie gerne hätten wir endlich ein Nachbarschaftshandbuch!), scheint ein solches Unterfangen fast irreal. Wir bräuchten also so etwas wie eine urbane Melioration, analog zur landwirtschaftlichen, als der Bund eine Agentur schuf um den Bauern von aussen zu helfen ihre Kleinstparzellen zusammenzulegen. Eine Nachbarschaftsagentur kann als neutraler Vermittler, ausgerüstet mit einem finanziellen Instrument, viel besser Nachbarn aktivieren und zusammenbringen als Leute aus der Nachbarschaft selbst, die dann sofort als Feinde von my home is my castle erscheinen.

Darum haben wir bei Neustart Schweiz einen Vorschlag formuliert, der sich ökologische Nachbarschaften nennt, es könnte auch heimelige oder agrourbane Nachbarschaften heissen. Er läuft darauf heraus, dass das Gemeinwesen, d.h. der Staat, der Bund, Kantone oder Gemeinden, allenfalls eine dafür zu gründende nationale Reurbanisierungsgenossenschaft, sich bildende Nachbarschaften mit organisatorischen, finanziellen und Know-How Ressourcen fördert. Das ist also keine ungezielte Regulierungsinitiative, sondern eine Institution, die mobilisiert, die also die Eigeninitiative und das Empowerment an der Basis stützt. Wie genau diese Agentur konstituiert wird, ob es eine Volksinitiative braucht (dauert halt lange, scheitert oft), parlamentarische Vorstösse, andere Formen, muss noch diskutiert werden. Ein Text liegt auf.

Eine solche Agentur wäre das ideale Instrument um die anonymen Agglomerationen (und das ist ja unsere grösste Herausforderung) mit sozialen Kernen zu versehen und damit lebenswerter zu machen. Die Auswirkungen auf weitere Kreise, wie Quartiere, Städte, Regionen und das ganze Land, wären enorm.

Ich glaube, die alte blosse Unterbringungsstrategie der Linken genügt heute nicht mehr. Das Proletariat will nicht versorgt, sondern mobilisiert werden. Wohnen allein ist ein defensives Programm, das die Menschen eher in eine Konsumhaltung presst. Wir wollen raus aus der Enge unseres Konsums und unserer kleinen Shoppingbeutemuseen, den Wohnungen. Es geht darum die Stadt zu bewohnen, und damit beginnen wir am besten in der Nachbarschaft. Das Recht auf Stadt braucht eine solide Alltagsbasis.

Die Taktik mit öffentlichem Wohnungsbau, der auf Kostenmieten basiert, den Immobilienfirmen den Markt kaputt zu machen, bleibt selbstverständlich gültig. Aber Wo-Wo-Wonige sollte meines Erachtens mit Na-Na-Nachbarschaft ergänzt werden.

Nun danke ich euch für das aufmerksame Zuhören. Ich hoffe ihr nehmt meine Vorschläge ernst und setzt sie umgehend in die Praxis um.

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