Urbane Weltrettung

von Fred Frohofer

Wer die Natur liebt, lebt in der Stadt

Urbanes Leben beansprucht weniger Siedlungsfläche und vermeidet Verkehr. Wenn wir zudem Dinge des täglichen Bedarfs mit Commoning bereitstellen, schonen wir nicht nur Ressourcen, sondern erhöhen die Lebensqualität und sparen erst noch Kosten ein. Der Verein Neustart Schweiz stellt sein dahingehendes Modell vor, das genau besehen wesentliche Antworten auf weltweit vorhandene und für kommende Generationen überlebenswichtige Problemstellungen enthält.

Dieser Artikel erschien in dérive (ISSN 1608-8131), der Zeitschrift für Stadtforschung, in der Ausgabe 65, Oktober bis Dezember 2016

Wer sich vom Alltagsstress erholen will, bucht ein Hotel und packt die Koffer. Mehr braucht es nicht, es ist ja alles da: Ein Zimmer als Rückzugsort; Restaurant, Bar und Kickertisch oder Billard-Raum um sich in Gesellschaft zu begeben; Pool oder Badesee, um auf andere Gedanken zu kommen. Und alles ist zu Fuss erreichbar. Was will man mehr? Das sagten sich schon manch Künstschaffende und Prominente, die ihren Wohnsitz ins Hotel verlegten.

Das wohl berühmteste und berüchtigste Habitat für Dauergäste war das Chelsea Hotel in Manhattan. Derzeit wird es renoviert und aufgewertet, doch der Glanz vergangener Zeiten wird kaum zurückkehren: Es war das inspirierende Zuhause von aussergewöhnlichen Menschen wie Stanley Kubrick, Janis Joplin, Arthur Miller, Patty Smith oder Bob Dylan.

Warum also die überdimensionierten Einfamilienhäuser, wozu den Bedarf verfehlte Wohnungen in öden Agglomerationen, wenn wir uns in Hotels besser von der Arbeit erholen können; wenn wir dort alles finden, was wir brauchen? Ist es eine Preisfrage? Hotelstrukturen sind nur dann teuer, wenn man sich bedienen lässt: Wären die Gäste gleichzeitig die Angestellten des Hotels, so käme eine mit einem Hotel vergleichbare Infrastruktur gar günstiger als unsere heutigen Wohnformen und es würden erst noch viele Probleme gelöst.

Und schon stecken wir tief drin in der Thematik von Neustart Schweiz, einem Verein, der ein nachhaltiges Nachbarschaftsmodell entwickelt hat. Die Nachbarschaft dieses Modells umfasst eine Gruppe von rund 500 Menschen, die die Dinge des täglichen Bedarfs selber organisieren. Nachbarschaften sind nach Wohnungen – den unabdingbaren Rückzugsorten von Individuen – das zweitkleinste Element einer raumplanerischen Sichtweise, wie sie in etwa auch von Christopher Alexander in A Pattern Language beschrieben wurde. Denn es soll nicht einfach nur gebaut werden, vielmehr müsste von vornherein klar sein, was wie und wo hingehört. Nur so vermeidet man Fehlinvestitionen und Unter- oder Überversorgung: Jedes Element hat demnach klare Funktionen und Anforderungen.

Zwanzig bis vierzig Nachbarschaften – etwa 20'000 Bewohnerinnen und Bewohner – bilden ein Quartier oder eine kleine Landstadt. Sie stellt in einem Zentrum in fussläufiger Distanz eine grundlegende Infrastruktur mit Grundschulen, Einkaufsmöglichkeiten Banken, Anwaltskanzleien, Ärzten und Apotheken, Kino und Veranstaltungssälen, nichtkommerziellen Räumen und dergleichen bereit. Das nächst grössere Element bildet die Stadt, die rund um die Uhr aktiv ist. Sie übernimmt Sicherheits- und Verwaltungsaufgaben und kann Fachschulen vorweisen. Das letzte und grösste Element ist die Metropolitanregion mit einer grossen Stadt im Zentrum, in welcher etwa eine Universität und hochspezialisierte Spitäler angesiedelt sind. Metropolitanregionen können auch länderübergreifend wirken, wie das um die Städte Luxembourg, Graz-Maribor, Mailand oder Genf herum bereits zu beobachten ist. Metropolitanregionen im Sinne von Neustart Schweiz stehen jedoch im Austausch mit den zugehörigen ländlichen Gebieten, in denen landwirtschaftliche Produkte für die Städte erzeugt werden und die der Naherholung dienen.

Mit der klaren Zuordnung von spezifischen Nutzungen zu jedem Element geht eine Relokalisierung einher, die das Leben und Zusammenleben gegenüber heute verbessert und die Regionen unabhängiger macht. Und dies mit wesentlich weniger Ressourcenverschleiss, als das derzeit der Fall ist. Denn die Maxime von immer mehr Rendite geht auf Kosten unserer Nachkommen und unserer Umwelt: Wir beuten Meere aus und verdrecken Gewässer, mästen Tiere mit Getreide aus bodenauslaugenden Monokulturen, verpesten die Luft mit giftigen Gasen, verbauen Kulturland für noch mehr Wohnfläche und noch viel mehr Verkehr.

Der Biokapazitäts-Footprint-Faktor zeigt auf, wie viel Fläche nötig ist, nützliche biologische Materialien zu produzieren und die Abfallstoffe der Menschen zu absorbieren. Derzeit liegt er bei 1,6. Das heisst, es müssten 1,6 mal mehr Flächen vorhanden sein, um die aktuell rund 7,4 Milliarden Menschen auf der Welt ohne ökologische Defizite zu versorgen. Beim derzeitigen ressourcenverzehrenden Verbrauch dürfte die Weltbevölkerung also nur etwa 4 Milliarden betragen. Tatsächlich leben bald doppelt so viel auf dem Planeten – und in absehbarerer Zeit werden es 10 Milliarden sein. Doch auch wenn wir von den 4 Milliarden ausgehen, wäre eine Neuausrichtung insbesondere der ersten Welt angezeigt: Allein China und Indien stellen 36 Prozent der Weltbevölkerung, die nach Wohlstand und Konsum der OECD-Staaten streben.

Wie ernähren wir uns in der Epoche des Anthropozän?

Uns blühen also noch grösserer Ressourcenverbrauch, noch mehr Emissionen von Treibhausgasen. Dabei sind wir längst in der Epoche des Anthropozän angelangt, dem Zeitalter, bei dem der Mensch massgeblich biologische, geologische und atmosphärische Prozesse auf der Erde beeinflusst. Doch wie wird sich das Anthropozän langfristig auf die Landwirtschaft auswirken?

Weder industriell erzeugte Nahrungsmittel noch Gentechnik werden uns künftig ernähren. Hybridpflanzen sind nicht in der Lage, sich an rasch wechselnde Bedingungen anzupassen, was aber durch den Klimawandel nötig sein wird. Und «Gentechnik ist sehr langsam, was die klimatische Widerstandsfähigkeit angeht. Die Bauern sind ihr Jahrhunderte voraus im Entwickeln solcher Eigenschaften von Pflanzen», wie Vandana Shiva gegenüber der TAZ kürzlich festhielt: «Wenn da schon tausend Jahre Arbeit getan wurde, würde ich darauf vertrauen und nicht auf ein wenig Jahre altes Experiment», sagt die Trägerin des Alternativen Nobelpreises. Ernährungssicherheit ist also nur mit grösstmöglicher Agrobiodiversität zu erreichen.

Doch anstatt vielfältige und abwechslungsreiche Lebensmittel zu erzeugen, zerstört die grossindustrielle Einheitsproduktion unsere Lebensgrundlage zusehends. Betrachtet man die gesamten bestehenden Umweltbelastungen, nimmt die Lebensmittelindustrie mit rund einem Drittel den ersten Rang ein. Auf der zweiten und dritten Stelle folgen Bauen und Wohnen sowie der Individualverkehr: Beide zusammen bilden das zweite Drittel der gesamten Umweltbelastung. Anders gesagt: Mit Ernährung, Wohnen und Mobilität haben wir zwei Drittel der gesamten Umweltbelastung selber in der Hand – und können etwas dagegen tun. Dieser Fakt ist die treibende Kraft hinter dem Nachbarschaftsmodell.

Dabei geht es nicht darum, die Askese auszurufen. Gerade weil wir heute über Technik und Wissen verfügen, können wir neue Strukturen aufbauen, welche die alten Systeme obsolet machen: Wir müssen nicht alles selber besitzen, wir müssen es bloss zur Verfügung haben. Wir müssen nicht dauernd durch die Welt jagen; wir brauchen jedoch mehr Austausch. Und wir können Nahrungsmittel nachhaltig produzieren, wenn wir das wollen.

Kern des Modells von Neustart Schweiz ist die mit jeder Nachbarschaft verbundene Landbasis. Meist ist sie ein Cluster verschiedener kleinstrukturierter Betriebe. Auf der Landbasis werden Gemüse, Getreide, Früchte, Hülsenfrüchte, Pilze, Kräuter und dergleichen angebaut. Tierliche Produkte müssen sich durch Weidehaltung auszeichnen, nur so sind sie ökologisch tragbar. Das macht Fleisch aber auch exklusiver und qualitativ besser, da es von ehemals glücklichen, gut ernährten Tieren stammt. Das Nachbarschaftsmodell geht davon aus, dass der Bedarf an tierlichen Produkten auf rund ein Drittel gegenüber dem heutigen Verbrauch abnimmt, was Kosten spart und Zivilisationskrankheiten einzudämmen vermag.

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Nachbarschaft dürften es kaum bemerken, dass sie viel weniger Fleisch und Milchprodukte konsumieren. Denn sie werden in ihrem siedlungseigenen Restaurant abwechslungsreich und fantasievoll bekocht, wenn sie das wollen. Die Köchinnen und Köche greifen dabei auf die Waren der angegliederten Landbasis zurück, welche in der Nachbarschaft im Lebensmitteldepot eingelagert sind. Dort können selbstverständlich auch Nachbarinnen und Nachbarn Lebensmittel holen, wenn sie mal selber kochen möchten. Im besten Fall geschieht der Bezug ohne direkte Bezahlung. Denn sowohl in der Küche als auch auf der Landbasis kann das demiurgische Verfahren angewendet werden.

Ein Demiurg dient den Bedürfnissen einer Gemeinde; der Begriff und dessen Bedeutung ist dem Altgriechischen entliehen. Demiurgische Verfahren verringern die Abhängigkeit von der Marktwirtschaft, die auf Konkurrenz und Ausbeutung beruht und der Konsumentenschaft laufend neue, meist unsinnige Produkte unterjubeln muss, um das Wachstumsparadigma zu bedienen.

Selbstorganisierte Nachbarschaftsvereinigungen regeln und gestalten den Alltag

Jede Nachbarschaft hat Bedürfnisse wie Essen, Kinderbetreuung, Reparaturwerkstätten und so fort. Also organisiert sie sich in einem Verein, einer Genossenschaft oder auch einer gemeinnützigen Aktiengesellschaft beziehungsweise GmbH. Diese Institution stellt Fachleute an und finanziert die Infrastruktur. Im Fall von Gemüseproduktion wären dies Fachleute im Gemüseanbau, die Landwirtschaftsflächen und Immobilien pachten sowie die Anschaffung entsprechender Werkzeuge organisieren, die übrigens keineswegs neu sein müssen. Die Fachkraft koordiniert alsdann den Anbau der gewünschten Pflanzen.

Die Mitglieder dieser Nachbarschaftsvereinigung bestimmen nicht nur mit, was angebaut wird, sie können selber mitarbeiten. In Zeiten der schwindenden Lohnarbeit braucht man so weniger Erwerbstätigkeit, um Geld fürs Leben zu haben. Vielmehr setzt man seine eigene Arbeitskraft direkt ein. Das Produkt, also in diesem Fall das Gemüse, ist ja durch Pacht, Lohnzahlung und eben die Eigenleistung finanziert. Darum muss es nicht mehr gekauft werden – und kommt günstiger zu stehen, da Renditen- und Zinszahlungen wegfallen. Mit dem demiurgischen Verfahren umschifft man den Markt mit all seinen Problemen.

Wenn man nun also alle Grundbedürfnisse wie die Produktion, Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln, das Waschen von Kleidung, Kinderbetreuung oder auch Reparaturen und handwerkliches Tätigsein im demiurgischen Verfahren erledigt und dabei Mitarbeitsmöglichkeiten einrichtet, stehen viele unterschiedliche Betätigungsfelder zur Auswahl.

Die Nachbarschaftsvereinigung sollte dann auch so ausgelegt werden, dass alle arbeitsfähigen Mitglieder tätig sind. Je nachdem sind pro Person etwa drei Stunden die Woche notwendig, um Nahrungsproduktion, Gastrobetrieb, Kinder- und Altenbetreuung und so fort sicherzustellen. Zeit, die sonst im eigenen Haushalt anfallen würde, aber im Kollektiv viel effektiver genutzt wird und erst noch soziale Energie erzeugt. Dabei sollten Vorlieben berücksichtigt werden, so dass man seinen Dienst in jenem Umfeld erledigen kann, welches einem am besten liegt: zum Beispiel bei der Kinderbetreuung, beim Anbau auf dem Land oder als Küchenhilfe. Selbstverständlich können die Einsätze gemischt werden, wenn das jemand bevorzugt. Und natürlich könnte die Nachbarschaftsvereinigung auch beschliessen, dass die einen oder anderen Jobs – oder gar alle – von Angestellten in Lohnarbeit erledigt werden. Nur muss das dann auch von den Mitgliedern finanziert werden.

In der Giesserei, einer selbstverwalteten Siedlung in Winterthur, ist Mitarbeit Pflicht. Es gibt verschiedene Jobs zur Auswahl: Betreuung der Hausbar, Pflege des Hofgartens, Organisation von Kulturveranstaltungen im gemeinsamen Saal oder etwa Treppenhausreinigungen .«Die Reinigungsjobs waren am schnellsten vergeben», sagt Manuel Lehmann, einer der Erstmieter im Neubau. Er vermutet, dass ein Bedürfnis nach solchen Routinearbeiten besteht, weil die Menschen in ihrem Arbeitsalltag geistig schon genug gefordert sind. Kann ein solches Konzept – in Zeiten in denen es als normal gilt vorrangig auf seinen eigenen Vorteil zu schauen – langfristig funktionieren? «Meine Erfahrung ist, dass es gelingen kann, wenn es Vertrauen gibt. In kleineren Strukturen ist es möglich, dieses Vertrauen zu bilden», beantwortete Elinor Ostrom einst diese Frage gegenüber dem Tagesspiegel. Doch die Professorin für Politikwissenschaft gab auch zu bedenken: «Die Regeln für die Bewirtschaftung der Gemeinschaftsgüter müssen von allen Beteiligten gemeinsam bestimmt werden, sie müssen klar sein, sie müssen überwacht werden und Verstösse müssen schnell geahndet werden. Dabei können die Strafen durchaus mild sein.»

Gemeinschaftsgüter – die demiurgische Betriebe in Reinkultur darstellen – waren Ostroms Lebensthema; sie ist Mitte 2012 kurz vor ihrem 79. Geburtstag gestorben. Ihre Arbeit rund um diese Commons wurde 2009 mit dem Nobelpreis für Ökonomie gewürdigt: Ostrom habe gezeigt, «wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann».

Commons sind gut auch in anderen Bereichen möglich. So ist beispielsweise in relokalisierten Lebensräumen ein eigenes Auto oft überflüssig, insbesondere wenn die Nachbarschaft im urbanen, mit öffentlichem Verkehr erschlossenen Raum angesiedelt ist. Natürlich braucht es Mobilität, nur schon um die Güter der Landbasen in die Nachbarschaften zu bringen oder etwa um den Käse abzuholen, der von einigen Mitgliedern den Sommer über auf der Alp speziell für die Nachbarschaft produziert wurde. Dazu genügen jedoch ein Lieferwagen und zwei oder drei PKW-Kombis, die in Carsharing-Manier der Nachbarschaft zur Verfügung stehen.

Commons dienen insbesondere dazu, Bedürfnisse abzudecken, die kommerziell nicht oder nur schlecht bedient werden können. In Wohnquartieren sind etwa nahe gelegene Einkaufsmöglichkeiten verschwunden, anstelle davon wurden Shopping-Malls auf der grünen Wiese errichtet, die kaum anders als mit dem motorisierten Individualverkehr erreichbar sind. Das dient weder dem autolosem, alleinerziehenden Vater noch der Rentnerin, die nur noch mit dem Rollator mobil ist. Im Gegensatz dazu lassen sich im demiurgischen Verfahren auch Quartiernutzungen realisieren, bei denen keine Rendite erwirtschaftet, sondern die von einer oder auch mehreren Nachbarschaften gewollt werden. So könnten etwa in Agglomerationsquartieren Zentren exakt gemäss den Bedürfnissen der Quartierbewohnerschaft aufgebaut werden: Wenn nur schon jeder der 20'000 Menschen 5 Euro im Monat bezahlt, ergibt das 1,2 Millionen Euro pro Jahr. Arbeiten die Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich freiwillig mit, können mit dem Geld zugleich etwa ein Kinosaal, eine Mediathek oder eine Kindertagesstätte realisiert werden. Das schafft auch neue, bezahlte Arbeitsplätze, die bisher nicht realistisch waren.

Auch Nachbarschaften in eher ländlichen Umgebungen sollten möglichst so konzipiert sein, dass genügend Erwerbsarbeit vor Ort vorhanden ist – etwa in der Lebensmittelproduktion für nahegelegene städtische Nachbarschaften. Denn Pendeln sollte vermieden werden – nicht nur aus ökologischen Gründen: «Die Zeit, in der Menschen am unzufriedensten sind, ist die Zeit, in der sie zur Arbeit pendeln. Besonders zufrieden sind Menschen hingegen, wenn sie ihr Sozialleben pflegen und zum Beispiel mit Freunden gesellig zusammen sind», sagt Glücksforscher Matthias Binswanger in einem Interview in PersonalSchweiz. Wenn sich das Pendeln nicht vermeiden lässt, dann dürften sich einige unter den rund 500 Nachbarinnen und Nachbarn finden, die ein ähnliches Ziel mit vergleichbaren Arbeitszeiten haben. Und so könnte das Pendeln im Kollektiv erfolgen.

Das Pendelkollektiv mit seinem Kleinbus bildet dann ein kleines Stück Commons, das in die nächsthöhere Ebene, die Nachbarschaft, eingebettet ist, aber komplett eingeständig funktioniert. So sollten auch andere Funktionen organisiert sein: Integrierte, jedoch unabhängige Commons mit eigener Entscheidungsfindung erleichtern die Verwaltung ungemein. Eine einzige, zentralisierte Führungsinstitution wäre dagegen zu träge und zu aufwändig.

Platzersparnis und sozialer Mehrwert durch Gemeinschaftsräume

Auch Gemeinschaftsräume in der Nachbarschaft können durch unabhängige, in die Nachbarschaft eingebettete Kollektive verwaltet werden. Dies bietet sich vor allem für Räume mit spezieller Ausrichtung an: etwa beim Spielplatz, beim Indoor-Spielraum und dem ebenfalls wichtigen Jugendraum. Wobei nur in den ersten beiden Fällen die Eltern noch mitreden dürfen; den Jugendraum kann man – selbstverständlich mit ausgehandelten Auflagen und Sanktionierungsmöglichkeiten – den Jugendlichen in Selbstverwaltung übergeben.

Gemeinschaftsräume, wie etwa Essraum und Mediathek, gehen die gesamte Nachbarschaft etwas an und sind somit Commons der ganzen Nachbarschaft. Da macht es Sinn, eine Arbeitsgruppe für die Koordination ins Leben zu rufen, so dass man bei Ausserordentlichkeiten Ansprechpartner hat.

Für gemeinschaftlich genutzte Räume sollte eine Fläche von rund 2'000 Quadratmetern zur Verfügung gestellt werden. So haben Gastrobereich, Lebensmitteldepot, Kinderbetreuung, aber auch eine Gäste-Pension, ein Rauchersalon – und was auch immer Sinn macht – genug Platz. Gehen wir von 500 Nachbarinnen und Nachbarn aus, sind das vier Quadratmeter, die jede und jeder Einzelne mitfinanzieren muss. Wäre das dem Privatraum zugeschlagen, entspräche es nicht einmal der Fläche eines kleinen Zimmers.

Durch die Auslagerung von Funktionen wie Gästezimmer, Essecke, Hobbyraum in die unmittelbare Nachbarschaft entsteht ein ungemeiner Mehrwert, der sich etwa mit der Lobby eines Hotels vergleichen lässt. Der individuelle Wohnraum pro Person kann so auf zwanzig bis dreissig Quadratmeter reduziert werden; in Österreich liegt der durchschnittliche Flächenverbrauch bei rund 44,2, in Deutschland bei 46,5 und in der Schweiz bei 45 Quadratmetern pro Person. In Nachbarschaften wird also mehr als ein Drittel Wohnraum eingespart; das senkt sowohl Kosten als auch Umweltbelastung entsprechend. Dennoch gewinnt die Lebensqualität enorm durch die bedarfsgerechten Nutzungen in der Nachbarschaft und die daraus entstehenden Kontakte.

«Die am ‹Zusammenleben› Beteiligten wollen ihre gemeinsamen Beziehungen pflegen aber unbedingt auch ihre individuelle Privatsphäre wahren. ‹Zusammen alleine leben›, heisst die Devise. Das gilt für die Begegnung mit den Nachbarn genauso wie für das Zusammenleben mit Wohnungspartnern innerhalb der eigenen vier Wände», ist ein Fazit der Schweizer Studie Lebensräume – Auf der Suche nach zeitgemässem Wohnen. Die beiden Forscher Mark Gilg und Werner Schaeppi stellten zudem fest: «Wer gerade keine Lust verspürt, mit den Nachbarn zu kommunizieren, will schliesslich nicht, dass ihm dies als Signal der Zurückweisung ausgelegt wird.» (Gilg & Schaeppi 2007)

Darum ist das Nachbarschaftsmodell von Neustart Schweiz keineswegs auf irgendeine ideelle Gemeinschaft ausgelegt, sondern fokussiert ausschliesslich auf ressourcenleichte und kostengünstige gemeinschschaftliche Nutzungen, die gemeinsam getragen werden. Es ist weder vorgesehen, dass alle Entscheidungen in Vollversammlungen mit allen Beteiligten basisdemokratisch gefällt werden, noch braucht es ein Commitment in jeder Hinsicht. Vielmehr kann jede und jeder weitgehend dabei sein, wie es behagt.

So sind alle Wohnformen – von Einraumwohnungen über Familienwohnungen bis zur Wohngemeinschaft – sowie unterschiedliche Beteiligungen in Form von Mitarbeit und Mitfinanzierung möglich. Dennoch ist das Leben in Nachbarschaften nach dem Modell von Neustart Schweiz vergleichbar mit Daueraufenthalten in Hotels, wo man sich je nach Gusto in den Trubel der Lobby stürzen oder sich auf sein Zimmer zurückziehen kann; anders als im Hotel betreut man diese Infrastruktur jedoch selbst. Und im Gegensatz zu Hotels kann man in solchen Nachbarschaften geboren werden, aufwachsen, leben und alt werden und sterben – es ist ja alles da.

Literatur
  • Alexander, Christopher; Ishikawa, Sara & Silverstein, Murray (1977): A Pattern Language: Towns, Buildings, Construction. New York: Oxford University Press.
  • Ostrom, Elinor (2011): Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter. München: oekom Verlag
  • Gilg, Mark & Schaeppi, Werner (2007): Lebensräume: Auf der Suche nach zeitgemässem Wohnen. Zürich: Niggli.
  • Neustart Schweiz (2013): Nachbarschaften entwickeln! Verein Neustart Schweiz: Zürich.
  • Widmer, Hans E. (2013): «The Power of Neighbourhood» und die Commons. Verein Neustart Schweiz: Zürich.

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